anno dazumal
Geschichten von Dorfvereinen ...
Geschichten von Dorfvereinen gleichen sich oft wie ein Ei dem andern. Nicht so im Falle St. Urbans. Klösterliche Vergangenheit, Psychiatrische Klinik und eine erst mit den Dreissigerjahren einsetzende Dorfwerdung: diese drei Merkmale sowie der traditionell recht enge Kontakt zu unseren aargauischen und bernischen Nachbarn jenseits der Rot verleihen dem dörflichen Alltag St. Urbans ein durchaus eigenes Gesicht. Und davon bleibt auch das Vereinsleben nicht unberührt.
Gründung in zwei Anläufen
1873 wurde in den Räumen der ehemaligen Zisterzienserabtei die Psychiatrische Klinik des Kantons Luzern errichtet. Zu den ersten Klinikangestellten zählten die zahlreichen Ingenbohler Schwestern, ohne die der bereits für die 1880er Jahre erwähnte Kirchenchor - wohl der erste "Dorf"-Verein St. Urbans - kaum hätte entstehen können. Die mit jeder baulichen Erweiterung gestiegene Zahl der Beschäftigten rief spätestens gegen Ende des verflossenen Jahrhunderts nach gemeinschaftlicher Gestaltung der Musse; letztere blieb freilich im engen Korsett der fast monastisch-strengen Anstalts-Hausordnung noch bis vor 40 Jahren recht spärlich bemessen.
Zur Gründung von Vereinen - den wichtigsten Trägern organisierter Freizeit im bürgerlichen Zeitalter - kam es spätestens 1899: es entstand ein Musik- und ein Schützenverein. An beiden war der später recht berühmt gewordene Dichter, Volksmusiker und Komponist Alfred Leonz Gassmann - damals Lehrer an der Gesamtschule - mitbeteiligt. Den Musikanten stand er als Dirigent vor und soll auch verschiedene Stücke für sie verfasst haben. Doch der junge Verein war, wohl wegen mangelndem Nachwuchs, nicht überlebensfähig.
1928 - im selben Jahr gründeten St. Urbaner Frauen den Mütterverein - wurde der Musikgesellschaft neues Leben eingehaucht. Initiant war Pfarrer Adolf Fries, der sich zu einer feierlichen Gestaltung des Gottesdienstes und der Prozessionen dorfeigene Musikanten wünschte. Zum Gründerkreis gehörten die Meisterknechte Willy Kaufmann (Dirigent) und Vinzenz Kreienbühl, Verwaltungsgehilfmann Bernhard Zimmermann und die beiden Roggwiler Berchtold und Flückiger. Bald kamen weitere Mitglieder hinzu. Seit 65 Jahren hat ihr Werk Bestand, und auf diese Spanne mit ihren Hunderten von Auftritten und Tausenden von Proben, mit Höhepunkten und Merkwürdigkeiten, halten die folgenden Zeilen Rückblick.
Von 20 auf 60
Noch Jahre nach der Neugründung musizierte die kleine Musikantenschar mit selten mehr als 20 Mann. Für grössere Auftritte war man auf auswärtige Verstärkung angewiesen und erhielt sie auch immer wieder aus dem benachbarten Roggwil. Als dann die Dorfbevölkerung und damit die Zahl potentieller Vereinsmitglieder anwuchs, erlebte St. Urban die Entstehung weiterer Vereine (z. B. 1936 Jungmannschaft, 1941 Neugründung Männerchor, 1956 Turnverein), die natürlich auch jedes neue Mitglied willkommen hiessen. Deshalb stieg die Aktivenzahl nur eher gemächlich: 1932 waren es 20, 1943 25, 1947 28, 1970 38, 1978 47, 1980 erstmals über 50 und seither zwischen 50 und 60 Mitglieder.
Musikantinnen
Die Ära des reinen Männer-Vereins ging um 1970, also noch vor der gesamtschweizerischen Einführung des Frauenstimmrechts, mit dem Eintritt der ersten Frau, Marie-Theres Brun, zu Ende. Mitte der Siebzigerjahre kam eine grössere Zahl Mädchen, für das neu gegründete Klarinettenregister ausgebildet von Theo Marti, hinzu; seit den frühen Achtzigern auch Flötistinnen.
Gegenwärtig ist jedes vierte Mitglied weiblich. Inzwischen spielen Frauen - bei aller Vorliebe für Holzblasinstrumente - in fast allen Registern mit; die Vorstellung ausschliesslich weiblicher oder ausschliesslich männlicher Instrumente hat sich weitgehend verloren. Und erwähnenswert ist sicher auch, dass die Musikgesellschaft ihre in den späten siebziger Jahren erreichte, imponierend grosse und recht vielfältige Harmoniemusikbesetzung massgeblich dem Mitmachen zahlreicher Musikantinnen verdankt.
Jugendförderung und Stärkeklassen
Das A und O für den Fortbestand eines jeden Vereins ist die Nachwuchsförderung. Die Musikgesellschaft scheute seit den siebziger Jahren weder Geld noch Anstrengungen für Jungbläserkurse und die damit verbundene Beschaffung von Lerninstrumenten. Die Einführung der Musikschule (1975), an der von Beginn an mehrere Vereinsmitglieder unterrichteten, unterstützte und erleichterte die Jugendförderung wesentlich.
Mit der Grösse des Vereins wuchs schliesslich auch die Güte der Darbietungen: ging es anfänglich 37 Jahre, bis sich die Musikgesellschaft von der 4. Stärkenklasse erstmals eine Stufe höher wagte (Eidg. Musikfest Aarau 1965, 3. Stärkeklasse), so stieg man (und frau) unter der Direktion von Karl Felder schon 15 Jahre später (am Kant. Musikfest Wolhusen 1980) in die 2. Stärkenkategorie auf; was allerdings nicht ausschliessen muss, in die Programme der Jahreskonzerte immer wieder auch 1.-Klass-Stücke aufzunehmen.
Fleiss, Seuchen und Krieg
Seit der Neugründung von 1928 traf man sich zu den Übungen im Handarbeitszimmer des Schulhauses. Als dieser Raum mit der Aufteilung der Gesamtschule in eine Unter- und eine Oberstufe (1946) zum Unterschulzimmer umfunktioniert wurde, erhielt die Musikgesellschaft einen kleinen Raum über dem Untertor. Im Winter musste vor den Proben jeweils mit Holz eingeheizt werden. Die Balken hingen tief, das Licht war schlecht, und von den Stühlen glich kaum einer dem andern; denn viele Mitglieder hatten den ihren selber mitgebracht, und so hatte ein jeder sein ihm am besten zusagendes Sitzgerät. 1968, nach Fertigstellung des neuen Primarschulhauses, übersiedelte die Musikgesellschaft in den geräumigeren Singsaal.
Marschübungen hielt man von Zeit zu Zeit auf der Boowaldstrasse oder beim Pavillon 3 ab.
Um dem - wie früher oder später in jedem Verein - nicht immer regen Probeneifer etwas aufzuhelfen, wurden 1934 Fleisskarten an alle jene Mitglieder abgegeben, die zu mindestens 85 % der Proben erschienen waren. 1949 gab es für gute Probenbesucher ein Kalendergeschenk. Zeitweilig standen jedoch höhere Mächte einem geregelten Proben- und Konzertbetrieb im Wege: Die Maul- und Klauenseuche von 1938/39, dann der Ausbruch des Krieges. Direktor Kopp war - wie sich Ehrenmitglied Josef Brun erinnert - als Militärtrompetergefreiter viel im Dienst, so dass erst seit 1943 wieder normaler Musikalltag Einkehr hielt.
Konzertlokal - vom Löwensaal zum Festsaal
Die ersten Jahrzehnte über hielt man die jährlichen Aufführungen im Löwensaal. Während schon früh die Wiederholungen für die Patienten im Festsaal der Klinik abgehalten wurden, verlegte man 1971 auch das Jahreskonzert hierher. Liess der Publikumszuspruch in den ersten Jahren noch öfters zu wünschen übrig, so lag dies nicht zuletzt an der Schwierigkeit, geeignete Aufführungsdaten zu finden. Aus Winterkonzerten im November oder Januar wurden Ende der fünfziger, anfangs sechziger Jahre Frühlingskonzerte; die Verlegung auf den Ostermontag geht auf einen Entscheid von 1964 zurück, der sich bald als Glückstreffer erwies.
Gold und Silber
Anfänglich musste noch jedes Mitglied sein Instrument selber anschaffen, doch 1968 hatten die altehrwürdigen, goldgelben, aber nicht immer mehr zuverlässig spielbaren Instrumente ausgedient. Die Musikgesellschaft präsentierte sich ihrem Publikum mit einem vollständigen Satz moderner, klangschöner Instrumente im modischen Silber-Look.
Attraktionen
Die wie erwähnt lange Jahre nur bescheidene Besetzung verlangte für abendfüllende Konzerte selbstredend nach zusätzlichen Attraktionen: in der ersten Zeit waren dies Theaterstücke, jeweils einstudiert vom Lehrer der Gesamtschule, Martin Hegi. 1949 sorgte erstmals ein Conferencier für Stimmung, in den Sechzigerjahren wurden wieder Dialektschwänke gespielt. Seit Mitte der siebziger Jahre begeisterte der ungarischstämmige Geiger Joka Bonzo das inzwischen zahlreich erscheinende Publikum: Was auch immer dieser Vollblutmusiker mit Temperament, Witz und Charme seiner Violine entlockte - Kostproben aus leichter Klassik, Salonmusik, Operetten und Filmwelt -, das Publikum war begeistert. Und der prächtige, zweihundertjährige Rokoko-Festsaal tat sein Übriges, um den Frühlingskonzerten der Musikgesellschaft St. Urban ihren auch ausserhalb des Kantons Luzern wohl einmaligen festlichen Glanz zu verleihen.
Ständchen und Konzerte
Es gibt wohl keinen Verein, der öfter bei öffentlichen Dorfereignissen - mitgestaltend - Zeuge ist, als eine Musikgesellschaft. Wüssten wir vom nachklösterlichen Leben in St. Urban allein aus den Protokollen der Musikgesellschaft, so gewännen wir bereits aus ihnen ein recht abgerundetes, vielfältiges Bild.
Im Kreise der Kirche standen jährlich wiederkehrende Auftritte an: am Weissen Sonntag die Aufwartung für die Erstkommunikantinnen und -kommunikanten (auf dem Kirchenvorplatz), Mitwirkung beim Umgang am Fronleichnamsfest bis in die Siebzigerjahre, musikalische Umrahmung der Waldpredigt für die reformierten Mitbürger/-innen im Sommer (zuerst im Chüewald, später im Sagiacher). In unregelmässiger Kadenz hingegen galt es bei Pfarrauftritten, Primizfeiern (1936; 1951 für Alois Lingg) oder Firmungen mitzuwirken, Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen und Hochzeiter mit einem Platzkonzert zu erfreuen.
Für die kranken Mitbewohner in der Klinik wiederholte die Musikgesellschaft ihr Jahreskonzert im Festsaal und trat jeweils an der grossen Weihnachtsfeier auf.
Ihre häufigsten Aufgaben nahm die Musikgesellschaft freilich im eigentlichen Dorfleben wahr. Darunter erscheinen einige Musizieranlässe wie Schlaglichter auf eine fremde, längst vergangene Welt: Frühkonzert vom Pfingstsonntag 1932 im Sagiacher; die frühe Morgenstunde, 05.00 Uhr, war wohl etwas allzu optimistisch angesetzt worden; der Aktuar, der selber auch nicht zugegen war: "Wie ich vernahm, war nicht alles anwesend". 1936 Ständchen "im neuen Quartier" für die Bewohner der ersten Neuquartier-Häuser. Die Gartenkonzerte in der warmen Jahreszeit (beim Löwen) brachten dem Verein, dank Lebkuchen- und Blumenstand und einer Tombola, dringend benötigte kleine Einnahmen. 1937 löste ein Baumgartenfest beim Weierhof das übliche Gartenkonzert ab. 1954 Ständchen zum Abschied einer Amerikareisenden. Solche Platzkonzerte wurden meist mit einem Fass "Hellem" (damals Baumberger) verdankt, und wessen Portmonee es erlaubte, legte noch eine Zwanzigernote drauf.
An Fasnacht hielt man bis in die Siebzigerjahre einen Maskenball ab. Seit den frühen Dreissigerjahren schmückte man am Güdisdienstag (seit den 70ern am Güdismontag) einen Wagen und machte musizierenderweise den Kehr im Dorf und bei den Höfen, während die Einzieher von Haus zu Haus eilten; vor gar mancher Tür durfte und darf das gastfreundliche Angebot eines guten Luzerner Kaffees nicht ausgeschlagen werden.
Die 1.-August-Feier hatte ihren Ort bis vor wenigen Jahren stets im Anstaltsgarten vor dem Hauptgebäude. Ursprünglich ging ihr ein Umzug voraus: von der Kirche an der Mühle vorbei zum Obertor und dann in den Park. Nach der Feier begab man sich zum Löwengarten und, wer Lust hatte, zum Feuer im Sagiacher.
1941 umrahmte die Musikgesellschaft die Vorführung eines offenbar imponierenden Militärfilms im Löwensaal mit einigen Märschen. 1949 und 1951 spielte die "Musig" beim Gedenkspiel auf das Kloster St. Urban die Marseillaise und den Trauerwalzer von Chopin.
1952 war einer der seltenen Waldweihnacht-Auftritte. An Muttertag gestaltete man jeweils nach der Messe bis noch vor 15 Jahren das traditionelle Mehrstationenkonzert mit Spielhalten vor dem Löwen, im Oberdorf und im Neuquartier. 1953 führten einige Mitglieder am Bettag nach der Frühmesse ein Turmblasen durch, und 1955 stand, nach 47jähriger Lehrtätigkeit, die Abschiedsfeier für den gestrengen und legendären Gesamtschullehrer Martin Hegi an. Neben Gemeinde- und Grossratsständchen (Dr. Hans Frei, Hans Kronenberg) sind solche für ältere oder wiedergenesene Mitbürger zu vermerken.
1968 war feierliche Schulhauseinweihung, im gleichen Jahr Einweihung des Kath. Kirchgemeindehauses in Langenthal. Einmal spielten wir ein Kirchenkonzert als Hauptprobe für ein Kantonales Musikfest (1970), dann anlässlich der Hundertjahrfeier der Klinik (1973), der Einweihung des Vita-Parcours und bei Brevetierungsfeiern (1976), ferner zur Einweihung des Neubaus Altersheim Murhof (1977) oder bei einer Missionsvortragsreihe (1979). Mit diesen Müsterchen soll es gut sein.
Höhepunkte
Hierzu zählen sicher die beiden bei der Altbürerstrasse abgehaltenen Flugtage. Den ersten organisierte die Musikgesellschaft 1931, den zweiten 1952 gemeinsam mit den Schützen. Der finanzielle Ertrag ermöglichte, sich der stets hohen (Instrumenten-)Kosten etwas besser zu erwehren.
Der erste Besuch bei unserem Partnerverein Weilheim-Teck - zu einem Zeitpunkt (1962), da die Kriegsvergangenheit in Deutschland noch keineswegs aus dem allgemeinen Bewusstsein verdrängt war - geriet zu einer bewegenden Begegnung zwischen Schweizern und Deutschen. Den grandiosen Erfolg verdankte diese Reise nicht zuletzt auch unserem begeisternden halbstündigen Unterhaltungsprogramm (weitere Besuche in Weilheim 1973, 1987; Gegenbesuch 1976).
Engagement mit Tradition
1965 drehte das Schweizer Fernsehen im Klinikpark eine Gedenksendung für A. L. Gassmann. Regie führte der noch wenig erfahrene Kurt Felix. Die Musikgesellschaft hatte in der Rondelle des Parkes den Marsch "Am Strande der Aare" von Gassmann, ein nicht eben leichtes Stück, vorzutragen. Das Fernsehteam verlangte, bis alle Kameraeinstellungen sassen, den Musikanten derart viele Wiederholungen ab, dass Kraft und Luft allmählich zu schwinden drohten.
1969 führte unser Verein den Kant. Musiktag durch. 43 Vereine mit ca. 1600 Musikanten spielten in der Kirche und im Festsaal. Die anspruchsvolle, aufwendige Organisation klappte wie am Schnürchen.
Wenn auch jedes Mitglied andere Ereignisse als Höhepunkte betrachten dürfte, so würden wohl alle übereinstimmend die Osterkonzerte im Festsaal der Klinik als jährliche Höhepunkte unseres Vereinslebens bezeichnen. Hier versuchen die Musikantinnen und Musikanten, von den erstmals auftretenden Jungbläsern bis zu den "Veteranen", dem treuen Publikum mit einem abwechslungsvollen, stimmigen Programm auf gutem Niveau Freude zu bereiten. Zusammen mit den zahlreichen übers Jahr verteilten Ständchen und den von Zeit zu Zeit besuchten Musiktagen und -festen gehören sie zu den Aktivitäten, die die Musikgesellschaft St. Urban schon seit 65 Jahren gepflegt hat und gerne auch weiterhin mit Engagement pflegen will.
von: Dieter Ruckstuhl, 1993